Russische SF:
Kir Bulytschow ist wieder
da!
2020 erschien mit »Der
einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes« ein Sammelband
mit politischen SF-Satiren und einem Katastrophenroman des wichtigen russischen
SF-Autors Kir Bulytschow, die 1986 bis 1991 in der Zeit der Perestroika
entstanden sind und jetzt erstmals auf Deutsch vorliegen. Herausgeber und
Übersetzer Ivo Gloss gibt einen Überblick über Leben und
Werk.
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Kir Bulytschow 1999
(Foto: A. Goljanow)
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Erzählungen.
1981
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1995. Lesetipp
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16 Millionen und andere
Zahlen
In russischer Sprache erschienen
von Kir Bulytschow ca. 350 Erzählungen, Novellen und Romane in mehr
als 700 Autorenbänden (incl. Neuausgaben) mit einer Gesamtauflage
von über 16 Millionen Exemplaren.
Übersetzungen erfolgten
in etwa 35 Sprachen u. a. auch in mehr als 200 Autorenbänden. Alle
Zahlen Stand 2014.
Kir Bulytschow (1934-2003),
dessen bürgerlicher Name Igor Moshejko lautete, schloss 1957 ein Studium
am Pädagogischen Fremdspracheninstitut in Moskau ab und war danach
als Dolmetscher und als Korrespondent für die Zeitschrift RUND UM
DIE WELT in Birma (heute Myanmar) tätig. Von dort brachte er eine
gute Kenntnis der dort erhältlichen amerikanischen SF und mehrere
Koffer dieser Lektüre mit. In den 1960er-Jahren war er wohl einer
der besten Kenner der angloamerikanischen SF in der Sowjetunion. Es war
die Zeit, in der dort SF aus dem Westen mehr als nur vereinzelt zu publizieren
begonnen wurde, und Kir Bulytschow gehörte zu jenen, die sie ins Russische
übersetzten.

Ein Dinosaurier im Einweckglas
Moshejkos 1961 erschienene
erste Erzählung zählte noch nicht zur Phantastik, wohl aber zwei
1965 folgende Veröffentlichungen: Die Erzählung »Ein
Gebot der Gastfreundschaft« brachte der clevere beginnende Autor
unter dem Pseudonym Maun Sein Dshi als angebliche Übersetzung aus
dem Birmanischen in der Zeitschrift ASIEN UND AFRIKA HEUTE unter. Im selben
Jahr erschien mit »Das Mädchen, dem nie etwas zustößt«
(dt. 1977, vollständig 1984) auch Bulytschows erste Geschichte des
an Kinder adressierten SF-Zyklus um das Mädchen Alissa. „Alissa“ ist
übrigens nicht nur die russische Form von „Alice“, jener ins Wunder-
und ins Spiegelland gelangenden Heldin des von Moshejko sehr verehrten
Lewis Carrol, sondern auch der Name von Moshejkos 1960 geborener Tochter.
Auch bei der ersten Alissa-Geschichte
bediente Igor Moshejko sich eines Pseudonyms. Er erachtete es bei allem
verständlichen Stolz auf die Veröffentlichung doch als notwendig,
speziell den Kollegen und Vorgesetzten an seinem nunmehrigen Arbeitsort,
dem Institut für Orientalistik, seine schriftstellerische Nebentätigkeit,
zumindest soweit sie den Bereich der Belletristik betraf, zu verheimlichen,
um zum einen die gebotene Seriosität als Wissenschaftler zu wahren
und zum anderen nicht als unterbeschäftigt zu erscheinen. Das Pseudonym
lautete: Kir Bulytschow. Das „Kir“ hatte der Autor vom Vornamen seiner
Frau Kira Soschinskaja entlehnt, das „Bulytschow“ vom Familiennamen seiner
Mutter.
SF für Erwachsene unter
dem Pseudonym Kir Bulytschow erschien erstmals 1967, und das unter reichlich
kuriosen Umständen. Kir Bulytschow schrieb auch damals noch Reportagen
für die Zeitschrift RUND UM DIE WELT. Diese wiederum brachte alle
zwei Monate als Ableger ein Magazin mit Spannungsliteratur, den SUCHENDEN.
Der Umschlag der Nr. 2 des Jahrgangs bildete einen Stuhl ab, auf dem ein
Einweckglas steht, in dem wiederum sich ein Saurier befindet. Er illustrierte
die Übersetzung einer amerikanischen SF-Geschichte. Und er war in
einer Auflage von 300.000 Stück mehrfarbig gedruckt worden, bevor
der entsprechenden Erzählung die Freigabe durch die Zensur verwehrt
worden war. Es galt also ein gewisses Problem zu lösen, wozu sich
die anwesenden Mitarbeiter bei der Besprechung am Abend zunächst einmal
durch ein landesübliches alkoholhaltiges Getränk in einen inspirierten
Zustand zu versetzen suchten. Man einigte sich darauf, ein jeder möge
sich nach Hause begeben, dort eine zur Illustration passende Geschichte
verfassen und diese dann am nächsten Tag zur Wahl stellen. In einer
frühen Fassung von Bulytschows Autobiographie wird sogar angedeutet,
von ihm selbst stamme sowohl der Vorschlag hinsichtlich des Selberverfassens
als auch der bezüglich des Alkoholgenusses, wobei er im durch einige
bereits in seiner Schublade liegende Geschichten gestärkten Vertrauen
auf seine schriftstellerischen Fähigkeiten dafür gesorgt habe,
dass die Kollegen über das inspirative Maß hinaus genossen.
Wie dem auch sei, Bulytschow brachte am nächsten Tag eine passende
Erzählung mit, die »Wann starben die Dinosaurier aus?«
hieß und auch die einzige war.
Alissa: Kinderbücher
als Bestseller
Die Geschichten um Alissa
ziehen sich durch Bulytschows gesamte Karriere als SF- und Phantastik-Autor.
Wie seine erste Phantastik-Veröffentlichung, so gehörte auch
seine letzte zu Lebzeiten erschienene neue Geschichte zu diesem Zyklus:
Eine Woche vor dem Tode des Autors begann der Zeitschriftenabdruck der
neuen Novelle »Alissa und Alissija«. Der Zyklus besteht
damit nunmehr aus über 40 Novellen und etwa 10 Erzählungen. Die
Alissa-Bücher erschienen in einer russischen Gesamtauflage von bislang
rund 5 Millionen Exemplaren und dienten als Grundlage für mehrere
Kino- und Fernsehfilme, von denen sich insbesondere die nach der Novelle
»Alissa
jagt die Piraten« (1978, dt. 1988) entstandene fünfteilige
Fernsehserie »Gäste aus der Zukunft« (UdSSR 1984)
enormer Beliebtheit erfreute. Der Alissa-Zyklus ist sicher die Basis für
Bulytschows große und lang anhaltende Popularität. Die ehemals
jungen Leser kaufen nun ihren eigenen Kindern diese ihnen in guter Erinnerung
gebliebenen Bücher und halten wohl oft auch selbst ihrem Lieblingsschriftsteller
aus Kindertagen die Treue, wenn sie entdecken, dass es von ihm auch ein
umfangreiches Angebot für Erwachsene gibt.
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1976
Enthält auch Guslar-Geschichten
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1980
Guslar-Text in Buchlänge
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1997
Teil einer 3-bändigen
Guslar-Edition
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Wenn etwas Seltsames passiert,
dann in Guslar
Dieses Angebot für Erwachsene
bestand zunächst einmal insbesondere aus den heiteren Geschichten
um die Einwohner des fiktiven Provinzstädtchens Guslar, Verzeihung:
Groß Guslar. Die erste Guslar-Geschichte war die 1970 erschienene
Erzählung »Persönliche Beziehungen« (dt. 1976).
Ein russischer SF-Kritiker bemerkte einmal, andere schrieben über
»Menschen
wie Götter« (eine Space Opera von Sergej Snegow), Bulytschow
aber über »Ganz gewöhnliche Leute« (so der
Titel seines 2. Erzählungsbandes für Erwachsene). Dies wird im
Guslar-Zyklus ganz besonders augenfällig. Auch demonstrieren diese
Geschichten, in denen märchenhafte Wunder wie sprechende und wunscherfüllende
Goldfische gleichberechtigt neben dem üblichen SF-Instrumentarium
von A wie außerirdischer Besuch bis Z wie Zeitmaschine stehen – manchmal
sogar in ein und demselben Text –, wie wenig der Autor von einer strengen
Trennung der unterschiedlichen Spielarten der phantastischen Literatur
hielt. Bulytschow bemühte sich meist nicht eben sonderlich darum,
dem Leser die Technik und Wissenschaft in seiner SF plausibel zu machen.
Warum auch – entweder hatten ältere Kollegen das längst getan,
oder aber es wäre einfach wenig erfolgversprechend gewesen. Bulytschows
Stärken waren das Erzählen der Geschichte und der Blick für
die Details der Charaktere und Schauplätze. Bulytschows Geschichten
– ob nun in Guslar oder andernorts angesiedelt – beginnen selten mit einem
Knall, sondern eher mit einer glaubwürdig beschriebenen Alltagssituation,
die sich dann durch den Einbruch des Phantastischen zuspitzt. Freilich
ist die im Hier und Heute angesiedelte Alltags-SF ohne exotische Welten,
ohne die Romantik der Weltraumfahrt und des Erfinder- und Entdeckertums,
ohne übermächtige Superhelden und im Kampf aufeinanderprallende
Sternenflotten und normalerweise auch ohne Weltuntergänge nicht für
jeden Science-Fiction-Freund die bevorzugte Spielart seines Lieblingsgenres.
Links und mitte: Der Roman
»Der letzte Krieg« und ein Novellenband mit der Titelgeschichte
»Ein Weg von 13 Jahren« in einer Bulytschow-Edition, die ursprünglich
nur die Werke für Kinder bringen wollte, dann aber auch mit Texten
für Erwachsene weiter machte und dabei den Gestaltungsstil beibehielt
Rechts: Auswahlband in
den USA. Die Einbandillustration illustriert die Titelgeschichte
Konflikte im Kosmos
Fast gänzlich im Kosmos
und in der Zukunft angesiedelt sind die nur lose miteinander verknüpften
Texte des Zyklus um den Weltraumarzt Pawlysch. Der Zyklus umfasst die beiden
Romane »Der letzte Krieg« (1970) und »Überlebende«
(1988, dt. 1995) sowie elf Novellen und Erzählungen. Der Pawlysch-Zyklus
gehört nicht zum humoristischen Schaffen Bulytschows. Er ist solide
sowjetische wissenschaftliche Phantastik. Mal präsentiert er sich
recht aktionsbetont wie zum Beispiel mit »Der letzte Krieg«,
mal spricht er besonders die Emotionen an wie in der Erzählung »Das
halbe Leben« (1973), mal steht die moralische Entscheidung seiner
Helden im Brennpunkt, wie das in der Novelle »Ein Weg von 13 Jahren«
(1983) der Fall ist.
In »Der letzte Krieg«
haben sich die menschlichen Bewohner auf einem fernen Planeten in einem
Atomkrieg gerade selbst den Garaus gemacht. Zwei Angehörige einer
fortschrittlichen Alienrasse werden von ihren Juniorpartnern, den Erdenmenschen,
zum Ort des Geschehens gebracht. Die Aliens vermögen es, aus Resten
biologischen Materials das jeweilige Individuum komplett samt Gedächtnisinhalt
wiederauferstehen zu lassen. Ein paar doch noch übrig gebliebene Militärs,
die zudem auch noch über Kernwaffen verfügen, machen den unbewaffnet
angereisten guten Menschen der Zukunft dann das Überleben schwer und
sorgen für ein dramatisches Geschehen. Schon in diesem frühen
Buch Bulytschows taucht ein in späteren Werken immer wieder zu findendes
Motiv auf: Die technisch und moralisch überlegenen Menschen der Zukunft
lassen sich von verschlagenen und skrupellosen Vertretern rückständiger
Gesellschaftssysteme in fataler Weise überrumpeln.
In der Erzählung »Das
halbe Leben« steht eine Frau mit Namen Nadeshda Sidorowa im Mittelpunkt.
Nadeshda Sidorowa, Jahrgang 1923, im Krieg und auch danach Krankenschwester,
eine Tochter, früh verwitwet, ist im Sommer 1956 spurlos verschwunden.
Ein etwas außer Kontrolle geratenes unbemanntes Erkundungsschiff
einer außerirdischen Zivilisation hat sie als Exemplar der Fauna
des dritten Planeten unseres kleinen gelben Sterns eingesammelt. Den Rest
ihres Lebens fristet sie in dem Raumschiff, oft darüber nachsinnend,
was wohl ihre Tochter über ihr Verschwinden denken wird. Sie kommt
schließlich um, als sie die Flucht fremdartiger vernunftbegabter
Leidensgenossen unterstützt, mit denen sie sich inzwischen angefreundet
hat. Das alles können Pawlysch und Gefährten später unter
anderem anhand von Aufzeichnungen der Entführten rekonstruieren, als
sie auf das inzwischen völlig tote Schiff gestoßen sind. Knapp
hundert Jahre nach Nadeshda Sidorowas Entführung kommt dann eine Expedition
irdischer Raumfahrer vom Planeten der aus dem Schiff entkommenen Aliens
zur Erde zurück. Der Enkelin Nadeshdas wird ein Foto überreicht,
das ein ihrer Großmutter von den Außerirdischen errichtetes
Denkmal zeigt.
In der Novelle »Ein
Weg von 13 Jahren« schließlich ruht der Fokus auf der moralischen
Entscheidung der handelnden Figuren. 106 Jahre bereits ist das Raumschiff
»Antäus« unterwegs, und noch dreizehn weitere müssen
vergehen, bis es als erstes Schiff der Menschheit einen der Nachbarsterne
unserer Sonne erreicht haben wird. Dieser Flug ist das Großunternehmen
der geeinten Erde und über all die Jahre hinweg in aller Munde geblieben.
Er konnte schon allein deshalb nicht in Vergessenheit geraten, weil er
auch und gerade nach dem Start des Raumschiffes ein beständiger gewaltiger
wirtschaftlicher Kraftakt ist, der jeden Menschen auf der Erde zu Einschränkungen
zwingt. Die »Antäus« transportiert eine Teleportationsstation
zu einem hoffentlich vorhandenen geeigneten Planeten im Zielsystem. Die
Besatzung wird alle Jahre unter Einsatz riesiger, jedes Mal größer
werdender Energiemengen ausgetauscht. Doch nun reißt just während
eines Besatzungswechsels die Verbindung zur Erde ab. Ist es ein vorübergehendes
technisches Problem in der »Bodenstation«? Oder stimmt sie
doch, jene bislang nicht ernst genommene Theorie, nach welcher der der
Teleportation zugrunde liegende Wirkungsmechanismus eine nun überschrittene
begrenzte Reichweite hat? Die Instruktionen sehen bei einem Abbruch der
Verbindung die Umkehr vor. Damit wäre das Jahrhundertunternehmen gescheitert,
denn für ein zweites Wenden nach einer möglichen Beseitigung
der eventuell nur zeitweiligen Probleme ist kein Treibstoff vorhanden.
Soll man stattdessen in der Hoffnung auf die Wiederherstellung der Verbindung
weiter dem Zielstern entgegenfliegen und vielleicht nach dreizehn Jahren
selbst den ersten Schritt der Menschheit zu den Sternen vollenden, die
Teleportationsstation auf einem möglicherweise völlig öden
Planeten installieren oder – wenn der Kontakt dann noch immer nicht wiederhergestellt
ist – mit ihr zurückfliegen und nach weiteren dreizehn Jahren wieder
in den Reichweiteradius der irdischen Station eintreten? Und wie soll die
Entscheidung gefällt werden? Darf eine Mehrheit, die weiterfliegen
will, über das Schicksal derer entscheiden, die umkehren wollen? Ist
der Minderheit, die umkehren will, mit einem Vetorecht gedient, das die
Verantwortung für das Scheitern der Mission ihren wenigen Schultern
aufbürdet?
Links: Sammelband »Das
Treffen der Tyrannen«. Das Titelbild illustriert die auch deutsch
vorliegende Erzählung »Das Treffen der Tyrannen bei Rowno«
Mitte
und rechts: Deutsche Auswahlbände mit Texten auch aus dem linken Buch
Glasnost und Perestroika
Die neue Offenheit in der
sowjetischen Gesellschaft der Gorbatschow-Zeit und der nachsowjetischen
Zeit spiegelte sich in Bulytschows Schaffen deutlich wider. So halten Glasnost
und Perestroika auch in Guslar Einzug. Es existiert eine Bürgerbewegung,
die der Guslarer Obrigkeit in Sachen Denkmal- und Umweltschutz auf die
Finger klopft, und eine Reise mit der Zeitmaschine offenbart in der Erzählung
»Vergangenheit«
(1989), dass der alte Loshkin als junger Mann im Jahr 1948 unter den entsprechenden
gesellschaftlichen Verhältnissen durchaus das Zeug zum Schurken hatte,
der um ein Haar seine zukünftige Frau denunziert und ins Lager gebracht
hätte. Der Gestus der Guslar-Geschichten wandelt sich vom harmlosen
Humor zur Satire. Düsterere Töne tauchen auf. Die längere
Erzählung »Die Senkrechtwelt« (1989) beginnt mit
einem Blick auf die durchweg erfreulichen Veränderungen, die in Guslar
unter dem in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre an die Macht gekommenen
neuen demokratischen und bürgernahen Stadtoberhaupt Beloselski vor
sich gegangen sind. In jener Parallelwelt aber, in die sich Bulytschows
Lieblings-Guslarer Korneli Udalow begibt, hat Beloselskis Vorgänger
Pupykin seine Macht nicht nur behauptet, sondern auch mit diktatorischen
Mitteln zementiert. Udalow findet sich in einer Welt der Unterdrückung
und Einschüchterung, der Günstlings- und Mangelwirtschaft, der
rücksichtslosen Umweltverschmutzung und eines grotesken Personenkultes
wieder.
Auch außerhalb Guslars
sind die späten 80er- und die frühen 90er-Jahre die Zeit des
politischen Bulytschow. Für die Schublade geschriebene Texte können
nun publiziert werden. Das Tagesgeschehen spiegelt sich in den Erzählungen
wider, die dementsprechend oft auch zeitnah in Zeitungen erstveröffentlicht
werden, und die nun ansprechbaren dunklen Seiten der sowjetischen Geschichte
werden thematisiert oder zumindest am Rande mit einbezogen.
Der deutsche Auswahlband
»Der
einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes« (2020) repräsentiert
genau diese Phase in Bulytschows Schaffen. Die 1991 erstveröffentlichte
witzige Titelerzählung mit der respektlosen Darstellung des greisen
Breshnew und seiner Umgebung ist bereits 1986 entstanden. Die etwas älteren
der Leser werden sich noch gut daran erinnern, wie es in ihrem jeweiligen
Heimatland war, als 1982 die Außerirdischen die Bevölkerung
eines jeden Landes dazu aufforderten, durch gedankliche Abstimmung zu entscheiden,
welche verstorbene Person wieder gesund ins Leben zurückgeholt werden
soll. Als damals in der sowjetischen Führungsriege darüber diskutiert
wurde, auf wen das Sowjetvolk eingeschworen werden sollte, da wäre
sicher mancher gern Mäuschen gewesen. Diese einmalige Möglichkeit
bietet Kir Bulytschow nun nachträglich.
Der im Band enthaltene Roman
»Der
Tod im Stockwerk tiefer« (1989) ist eine Momentaufnahme der gesellschaftlichen
Verhältnisse des Jahres 1987, in dem die bislang uneingeschränkte
Macht der Partei bereits etwas zu wanken begonnen hatte. Es geht um die
Ignoranz der Verantwortlichen gegenüber den Warnungen der Wissenschaft
vor einer sich abzeichnenden hausgemachten Katastrophe, die über eine
große, aber fernab von Moskau liegende Stadt hereinzubrechen droht.
Es geht um die Überlebens- und Rettungsbemühungen während
der Katastrophe und darum, dass sich unter den Überlebenden recht
bald durchaus unterschiedliche Ansichten darüber offenbaren, was unter
„Schadensbegrenzung“ und „Aufräumarbeiten“ zu verstehen ist.
Die schwarzhumorige Geschichte
»Der
alte Iwanow« (1989) hingegen ist eine Reise durch die gesamte
Sowjetzeit bis hin in die – vom Zeitpunkt des Entstehens aus gesehen –
nahe Zukunft anhand der Lebensbeschreibung der Titelfigur. Iwanow ist ein
Problemlöser mit hundertprozentiger Erfolgsrate. Sie kennen ihn bisher
nicht, denn er hatte keinerlei Ambitionen auf Karriere. Stets reichte die
Zusicherung einer Erfolgsprämie, die keineswegs sonderlich groß
zu sein brauchte, völlig aus, um ihn ohne Rücksicht auf Verluste
die ihm gestellte Aufgabe lösen zu lassen. In dieser herrlich lakonisch
geschriebenen Erzählung führt Bulytschow dem Leser vor Augen,
dass dieser Iwanow durch die gesamte Geschichte der Sowjetunion hindurch
eine stetig zunehmende Rolle gespielt und letztlich im Verborgenen sogar
Bedeutung für das Schicksal der gesamten Welt erlangt hat. Eine Erzählung,
die man, wie ich finde, mit nicht nachlassendem Vergnügen durchaus
mehrmals lesen kann, weil einfach jeder Satz sitzt.
Ebenfalls satirischer Natur
ist die Erzählung »Der freie Tyrann« (1988). Sie
gehört zum Guslar-Zyklus. Allerdings hat Kir Bulytschow seinem Guslarer
Korneli Udalow Reisefreiheit gewährt. Der kommt mit seinem Raumschiff
nicht so ganz zurecht, muss auf einem Planeten einen ungeplanten Zwischenstopp
einlegen und landet ausgerechnet in einem Gefangenenlager, wo er alsbald
neu eingekleidet wird. Er bekommt jedoch auch die Möglichkeit, den
Herrscher des Planeten zu treffen und sich so ein Bild von den verblüffenden
Verhältnissen auf dieser Welt zu machen. Eine Geschichte, die das
Zeug zum Lesebuchtext hat.
Apropos: Die Anerkennung,
die Bulytschows Schaffen in seiner Heimat über die Grenzen des Genrepublikums
hinaus genießt, zeigt sich unter anderem auch daran, dass verschiedene
SF-Texte des Autors Eingang in Schullesebücher fanden. Übrigens
auch in ein (west-)deutsches der 1980er- und 1990er-Jahre.
Links: Heft mit 3 Guslar-Geschichten.
Mitte: Später ein Teil des Romans »Überlebende«.
Rechts: Kinderbuch ohne Alissa
Was sonst noch auf Deutsch?
Im Zeitraum von 1974 bis
1990 wurde mit Ausnahme von 3 Jahren in jedem Jahr mindestens ein neues
Buch oder eine weitere Erzählung von Kir Bulytschow/Igor Moshejko
erstmals in deutscher Sprache veröffentlicht. In der DDR erschienen
4 selbständige Veröffentlichungen Bulytschows mit SF für
Erwachsene, 5 Bücher mit SF für Kinder und 2 Sachbücher.
Die selbständigen SF-Veröffentlichungen für Erwachsene sind
der Auswahlband »Ein Takan für die Kinder der Erde«
(dt. 1976), die Guslar-Erzählung in Buchlänge »Das Mars-Elixier«
(1971, dt. 1980), die Heftveröffentlichung »Besuch aus dem
Kosmos« (dt. 1982) und die Erzählung in Buchlänge »Der
Gebirgspass« (1980, dt. 1986). Nach dem Ende der DDR brachte
Heyne den Planetenroman »Überlebende« (1988, dt.
1995, spezieller Lesetipp) und 1996 und 1999 erschienen noch zwei Erzählungen
und ein Romanauszug. Es ist dem Memoranda-Verlag
sehr zu danken, dass er nun mit dem Band »Der
einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes« nach einer
Unterbrechung von rund 20 Jahren dem deutschen Leser endlich weitere Beispiele
des erzählerischen Könnens eines der wichtigsten russischen SF-Autoren
verfügbar gemacht hat. Ein nicht durch diesen Artikel vorbereiteter
Leser wird nach der vergnüglichen Lektüre dieser heiteren Erzählungen
über ernste Dinge und nach dem Umblättern der letzten Seite des
im Band enthaltenen fesselnden Katastrophenromans vielleicht verblüfft
feststellen, dass es in diesen mehrere Jahrzehnte alten Texten überwiegend
um Probleme geht, die nicht gemeinsam mit der Sowjetunion verschwanden,
sondern die heute sogar akuter denn je sind.
Bei dem vorstehenden Text
handelt es sich um eine für die Veröffentlichung auf TOR-Online
stark bearbeitete (teils gekürzte, teils erweiterte, teils überarbeitete)
Fassung des Nachworts aus dem Band »Der einheitliche Wille des gesamten
Sowjetvolkes«. Der Band enthält auch eine Gesamtbibliographie
der deutschsprachigen Veröffentlichungen K. Bulytschows.
Stimmen
zu "Der einheitliche Wille des gesamten Sowjetvolkes"
Zu
"Oktoberrevolution 1967"
Das
vernichtete Manuskript oder Der dritte Kir Bulytschow
Alle
deutschen Bücher von Kir Bulytschow mit Cover-Bildern
Cover
einer russischen Bulytschow-Werkausgabe
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